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Sex ohne Feuerwerk ist auch guter Sex

“DAS WISSEN UM DIE UNTERSCHIEDE IST DER GRÖSSTE TEIL DER LÖSUNG”

“Warum läuft’s nicht mehr im Bett?”, “Meine Partnerin hat nie Lust!”,  “Ständig streiten wir uns über Sex!”: Mathias Graf hat viel Erfahrung mit diesen Themen. Er ist Diplom-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut und Geschäftsführer der pro familia Beratungsstelle in Singen. Als Paar- und Sexualberater unterstützt er Männer und Frauen dabei, eine gute Paar-Beziehung und erfüllende Sexualität zu leben. Im Interview mit Vinico erklärt er, welche Klischees der Wirklichkeit entsprechen, wie Männer und Frauen ticken und was sie wirklich brauchen.

VINICO: Reden Männer offen über ihre Sexualität und ihre sexuellen Probleme? Oder tun sie sich dabei schwerer als Frauen?

Graf: Wenn ich mal ganz allgemein über “die” Männer spreche, außerhalb meiner Beratungstätigkeit: Sicherlich sind in typischen Männerrunden die persönlichen sexuellen Probleme kein Thema, Sexualität wird dabei eher in Form zotiger Witze zum Thema. Bei Frauen ist das vielleicht ein bisschen anders, zumindest höre ich in Beratungen mitunter, dass Frauen mit guten Freundinnen gegebenenfalls auch über Sexualität und sexuelle Probleme reden. Bei Männern höre ich das fast nie.
Was die Beratung angeht: Da stelle ich keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern fest. Es ist also nicht so, dass Frauen offen erzählen und man bei Männern ständig nachbohren müsste. Und bei länger dauernden Beziehungen geht es so gut wie immer auch um Sexualität.

VINICO: Das klingt erst mal erschreckend. Warum wird die Sexualität in Langzeitbeziehungen so oft zum Problem?

Graf: Es ist eben wirklich sehr oft so, dass sich nach mehreren Jahren – das können schon drei Jahre sein – deutliche Unterschiede in den sexuellen Bedürfnissen zeigen oder dass sich der Sex sogar ganz ausgeschlichen hat. Häufig sieht das so aus: Der Mann wäre ständig bereit, die Frau könnte auch ohne Sex auskommen. Das wird dann zum ewigen Streitthema. Die Paare haben den Eindruck, sie hätten schon so viel drüber geredet und nichts würde ihnen helfen. Wenn man nachfragt, stellt man üblicherweise fest, dass das kein konstruktives Reden ist. In aller Regel äußert einer der beiden seine Unzufriedenheit und der andere fühlt sich angegriffen.

Mathias Graf

VINICO: Mann will immer, Frau will nie – das entspricht dem gängigen Klischee. Stimmt das wirklich? Und warum ist das so?

Graf: Wenn man “immer” und “nie” durch “häufig” und “selten” ersetzt, dann stimmt das. Zumindest ist das eine sehr häufige Konstellation, das bestätigt unsere Beratungserfahrung durchaus. Den umgekehrten Fall gibt es viel seltener. Und es lässt sich auch ganz einfach mit der Evolutionstheorie erklären. Sexualität ist ein Produkt der Evolution, mit der zentralen Frage: Wie erhalten wir unsere Art? Demnach würde es für Frauen theoretisch reichen, einmal Sex zu haben und schwanger zu werden. Nach dem Nachwuchs wäre Sexualität praktisch überflüssig. Der Mann dagegen könnte jeden Tag, auf jeden Fall möglichst häufig.
Rein biologisch sind wir also nicht für die länger dauernde Paarbeziehung gemacht. Trotzdem wollen wir das, und es ist natürlich auch ein gutes Konzept. Aber die Biologie spielt eben nicht mit.

VINICO: Klingt sehr kompliziert. Wie kann befriedigende Sexualität in einer längeren Beziehung dann überhaupt funktionieren?

Graf: Indem das Paar diesen naturgegebenen Unterschied erkennt und akzeptiert. Das Wissen darum ist der größte Teil der Lösung.
Problematisch wird es ja dann, wenn einer sagt: “Da stimmt was nicht.” Entweder mit dem anderen oder mit mir selbst. Wenn also die Frau dem Mann vorwirft, er benutze sie nur als Sexobjekt, oder denkt, es stimme etwas nicht mit ihr, sie sei frigide geworden. Anders herum: Wenn der Mann der Frau unterstellt, sie wolle ihn nicht mehr, oder sich selbst in Frage stellt, weil er viel häufiger Sex will als seine Partnerin.
Dabei sind die beiden ein stinknormales Paar. Diese Erkenntnis schafft große Erleichterung und Raum für kreative Lösungen.

VINICO: Wie können diese aussehen?

Graf: Sicher orientiert sich diese Lösung nicht an dem, was die Medien vorgeben. Zahlen, wie oft ein deutsches Paar durchschnittlich Sex hat, schaffen mehr Probleme, als dass sie hilfreich sind. (Sowieso ist fraglich, wie diese Zahlen erhoben werden und was dabei als “Sex” gezählt wird.)
Vielen hilft die Sichtweise des Paartherapeuten Jürg Willi. Er unterscheidet eine Sexualität der Verführung und eine Sexualität der Zugehörigkeit. Unter Sexualität der Verführung versteht er das, was ein Paar am Anfang der Beziehung eher erlebt. Etwas mit viel Aufregung, Erregung und viel Lust. Das haben wir auf die Schnelle im Kopf, wenn wir von “Sex” reden. Und das ist es auch, was wir in der Regel in Sex-Szenen in Filmen präsentiert bekommen. In länger andauernden Beziehungen steht aber in der Regel die Sexualität der Zugehörigkeit im Vordergrund. Diese ist weniger aufregend, aber nicht weniger wertvoll.

Und das bedeutet: “Sex ohne Feuerwerk ist auch guter Sex.” Sex muss nicht immer mit großer Verführung und Täterätäää laufen, es kann auch unspektakulärer zugehen. Dabei steht einfach die Zugehörigkeit im Mittelpunkt: die beiden als exklusives Paar. Von der Häufigkeit her wird es sich vielleicht irgendwo in der Mitte einpendeln, vielleicht etwas näher an den Vorstellungen der Frau. Aber wenn die Beziehung an sich liebevoll ist, wird die Frau auch mehr mitmachen, auch ohne die ganz große Lust oder Erregung.
Weitere Ideen wären auch Stundenplansex, also Sex nach Plan, der beiden den Druck nimmt, wann sie “sollen” oder “dürfen”.
Oder ein Paar-Abend: In regelmäßigem Abstand übernimmt einmal die Frau, einmal der Mann die Verantwortung und gestaltet einen gemeinsamen Abend. Wenn die Frau an der Reihe ist, soll der Abend mit Sex enden, wenn der Mann dran ist, nicht unbedingt. So sind ganz automatisch beide aufgefordert zu überlegen, was für einen Rahmen sie gerne möchten.
Wichtig ist immer: Es muss zum jeweiligen Paar passen. Und wenn sich einer völlig überwinden muss, dann ist es noch keine gute Lösung.

VINICO: Stimmt es, dass Männer mit Sex Stress abbauen, und Frauen unter Stress erst recht keinen Sex wollen?

Graf: Ja, es stimmt, dass bei Frauen üblicherweise erst mal das Drumherum stimmen muss. Männer sind beim Sex eher stressresistent, das heißt, sie können Sex haben mit oder ohne Stress. Es gibt zwar hin und wieder auch Paare, die Versöhnungssex mögen, aber das ist statistisch gesehen nicht häufig.

QUICKIE

LÖSUNGSANSÄTZE – DAS FELD “SEXUALITÄT” ERWEITERN

Konkret kann das z. B. bedeuten:

  • Sex ohne Feuerwerk ist auch guter Sex
  • Kuschelsex kann auch der eigentliche Sex sein, nicht nur das Vorspiel
  • Sex ohne Geschlechtsverkehr ist auch richtiger Sex
  • Stundenplansex kann auch eine gute Idee sein
  • Auch Sex, bei dem nur eine/r der beiden Erregung verspürt, ist in Ordnung (solange der/die andere sich dabei wohlfühlt und sich nicht dazu überwinden muss)
  • keine Orientierung an Sexszenen im Film als Vorbild. Die stammen nicht aus dem realen Leben von Paaren, sondern stehen so im Regiebuch

© Mathias Graf, Dipl. Psych., Vortrag Paar- und Sexualberatung

VINICO: Wobei kann die Beratung generell helfen? Und wobei nicht?

Graf: Nahezu immer kann die Beratung etwas verändern an der sexuellen Gelassenheit. Das gilt auch dann, wenn irgendwelche Funktionsstörungen vorliegen. Zum Beispiel, wie man als Paar mit einer Erektionsstörung des Mannes oder mit einem Praecox, also vorzeitigem Samenerguss, umgehen kann. Wenn es im Rahmen einer solchen Funktionsstörung, z.B. bei einer Erektionsstörung, auch um die Behandlung eines medizinischen Problems,  geht, ist es natürlich sinnvoll, auch einen Urologen aufzusuchen.
Wenig helfen kann die Beratung, wenn das sexuelle Problem von einem der beiden Partner als einziges Kriterium genommen wird, ob es mit der Beziehung weitergeht. Zum Beispiel hatte ich mal ein Paar in der Beratung, die Frau hatte eine Affäre, schwärmte vom Super-Sex mit ihrem Lover und warf ihrem Mann vor, warum das mit ihm nicht so funktioniere. Und sie knüpfte den Erhalt der Ehe daran, ob er sich da “bessern” könne oder nicht. Wenn diese Verhärtung besteht, kann Beratung meistens auch nicht mehr viel bewirken.

VINICO: Bekommen Sie Feedback, wie Beziehung und Sexualität sich nach einer Beratung längerfristig entwickelt haben?

Graf: Vergleichsweise selten, da nur wenig Paare wieder kommen. Ich sehe das aber als gutes Zeichen.

VINICO: Anderes Thema: die Penisgröße. Ist das ein großes Angst-Thema für Männer? Und für Frauen?

Graf: Nein, in unserer Beratung nicht. Die Angst, einen zu kleinen Penis zu haben, wird sicher von den Medien übertrieben. Im Leben von Paaren spielt das keine Rolle. In unserer Onlineberatung, also anonym, kann es sein, dass das Thema mal angesprochen wird, aber auch da ist es nicht zentral.
Bei unseren sexualpädagogischen Veranstaltungen mit Jungs, wenn wir unser Modell mit verschiedenen Penisgrößen auspacken, kommt zu 99 Prozent ein flapsiger Spruch – “Der größte da ist meiner” oder so ähnlich. Das ist aber wirklich nur die erste Reaktion, bevor wir sehr offen und ernsthaft über Penis- und Kondomgrößen sprechen.
Was Frauen betrifft: Es kommt schon hier und da vor, dass sie sagen, sie spüren nicht viel beim Sex. Sie schieben das aber nicht auf die Penisgröße des Partners, sondern machen sich eher Gedanken, wie sich ihr eigener Körper, zum Beispiel nach einer Schwangerschaft, verändert haben könnte.

VINICO: Was ist mit sexuellen Fantasien? Sind diese ein Thema in der Beratung?

Graf: Natürlich ist es so – das hat der Sexualwissenschaftler Ulrich Clement anschaulich verdeutlicht –, dass jeder Mensch viele Fantasien hat und in der Beziehung nur eine kleine Schnittmenge ausgelebt wird. Es gibt die Auffassung, dass man genau dort ansetzen sollte, das Paar also ganz gezielt seine Fantasien erforschen und weitere Übereinstimmungen suchen sollte, um das Sexleben zu bereichern. Meiner Erfahrung nach erzeugt dies aber meist mehr Druck als Hoffnung, vor allem für die Frauen. Und natürlich besteht auch immer die Gefahr, dass die Fantasien eines Partners, die nur Fantasien sind, den anderen verstören.
In einer liebevollen Beziehung tut es aber schon gut, Kleinigkeiten auszuprobieren, die beiden Spaß machen, und sich dabei auch etwas zu trauen.

VINICO: Was ist Ihr zentraler Tipp für erfüllte Sexualität?

Graf: Die Unterschiede in den sexuellen Bedürfnissen als natürlich ansehen und somit entspannt und gelassen an die Sachen rangehen. Es ist normal, dass die Frau weniger Sex möchte als der Mann. Und auch wenn es mal umgekehrt ist, ist das kein Zeichen dafür dass eine/r von beiden nicht normal wäre. Es ist vielmehr ein reizvolles Phänomen, bei dem es sich lohnt, sich gemeinsam dafür zu interessieren.
Und noch eine Ermutigung: Gerade im Bereich Sexualberatung kann man mit wenig Aufwand – oft reichen schon zwei bis drei Stunden – ganz viel erreichen!

 

Hier findest Du die pro familia und Mathias Graf:

http://www.profamilia.de/

http://www.profamilia.de/angebote-vor-ort/baden-wuerttemberg/singen.html